Bewertung 4.5/6 Pommesgabeln
Genre Post-NDW
Label Deafground
Releasedatum 4. September 2015
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Major Erd - Lametta

30. August 2015, 15:41 - review, debüt, ep, deafground, major-erd - geposted von DocDesastro

Bielefeld...wenn man Comedians und IT-Studenten glauben darf eine fiktive Stadt irgendwo am Tor zu Atlantis oder einfach irgendwie unsichtbar - ein schwarzes Loch in Deutschland, wo man hin muss, wenn man im Zeugenschutzprogramm landet...

Oder einfach ne 300k+ Stadt in Nordosten von NRW mit eigener Uni, ner Fabrik für ölige Fertigpizza und einem Zweitligafußballverein, idyllisch zwischen Ems und Weser gelegen.

Von dort kommen Major Erd, ein musikalisches Quartett, das sich entschieden hat, Deutschland mit ihrer Debüt-EP zu beglücken. Musikalisch laut eigenem Label "in kein gängiges Raster passend" könnte man die Musik am ehesten irgendwo in Richtung Post-NDW ansiedeln. Für alle, die noch vieeel jünger sind sei gesagt: Es gab mal ne Zeit, da war deutschsprachige Musik.... Scheisse. Entweder man hörte Volksmusik, oder durfte deutschen Schlager hören oder es gab nen englischsprachigen Hit mit deutschem Text - man erinnere sich an so Monstrositäten wie "Der Hund von Baskerville" von Cindy und Bert (Orginal Black Sabbath - Paranoid). Nun war die NDW oder Neue Deutsche Welle der Versuch, deutschsprachige Musik salonfähig zu machen, also eine Undergroundbewegung. Es tummelten sich Künstler wie Fräulein Menke, Hubert Kah, Nina Hagen (damals mit ihrer Band Spliff) und viele andere herum. Vielleicht habt ihr ja schon mal nen NDW-Sampler in der Hand gehabt oder reingehört und glaubt jetzt, dass alle damals nur Major Tom oder den goldenen Reiter oder Fred vom Jupiter gehört haben. Stimmt so nicht ganz, waren aber die prominentesten Vertreter.

Zur Band selbst: Sie wurde im Juni 2014 gegründet und unternahm schon im Oktober Liveshows. Februar-April dieses Jahres haben sie dann ihre Debüt-EP gepresst, im Juni dann nahm Deafground Records sie unter Vertrag und nun, nach einigen Gigs mehr, erscheint die Scheibe endlich.

Eine offizielle Homepage gibt es nicht, dafür aber eine Facebookpräsenz.

Sie ist insofern bemerkenswert, als dass die Band hier die kreative Idee hatte, sechs Künstler zu beauftragen, zu jeweils einem der Songs ein Artwork zu gestalten, allerdings. ohne die Scheibe als ganzes zu kennen oder wer die anderen Illustratoren sind. Somit ist Lametta selber schon eine Art Konzept. Mit Lametta schmückt man den Baum, mit Lametta schmücken die Offiziere ihre Schultern und Major Erd schmücken Ihr Booklet - oder lassen es schmücken. "Illustriere diesen Song" - das war die einzige Vorgabe. OK - gibt Originalitätspunkte bei mir.

Was jetzt auf der Scheibe ist...IGOOOR!! Mach mal die Anlage an!....["Ja, Meifter!"]


Review:

Rein damit. Schauen wir uns mal den ersten Text an und spielen dazu den Song ab. Kanten schleifen heißt er.
Es geht groovig bis funky los. Dann setzt der Gesang ein und man hört sehr schnell, dass die Texte wohl-durchdacht sind und auch einer gewissen Eloquenz nicht missen. Sehr bildhaft bedienen sich Major Erd der deutschen Sprache und wechseln Tempo und Rhythmus sicher. Gesanglich ist auch alles im grünen Bereich. Die Musik greift Stilmittel aus vergangenen Tagen auf, Hi-Hats und leicht verzerrter Gitarrenklang streichen diesen Song ein wenig funky an und machen ihn vor allem eines: Tanzbar.
Inhaltlich muss ich sagen, haben wir hier ein sehr durchdachten Song vor uns. Der Mensch, als Metamorph, als Stück Holz, aus dem alles werden kann, wird hier dargestellt als etwas widernatürliches, wie in einer dieser Zirkusshows um die 1900 - ihr wisst schon, wie die "bärtige Lady", das "Wolfskind" und Einmachgläser mit zweiköpfigen Kühen. So scheint uns die Medienwelt den Menschen vorzustellen - gefährlich, rau, man muss vorsichtig mit ihm sein. Kann man da denn nix machen?
Klaro, alles rundschleifen, was rund ist, hat keine Ecken und Kanten mehr. Bezieht man das mal auf die Fernsehlandschaft, wird geschnippelt und geliftet, gebotoxt und was weiß ich. In der Musik wird alles im Keim erstickt, was nicht Mainstream ist. Es wird gecasted und dann die Band zwischen Holz-Bohlen geklemmt und mit der Feile bearbeitet, bis man wieder schön seichten Pop hat. Gesichtslose Nicht-Individuen sollen wir sein. Schön rund. Und glatt - wer würde denn auch was raues anfassen wollen?! Außerdem - wer schon geschliffen ist, aus dem kann nix mehr werden - daher gefällt mir der Vergleich mit dem Holz so gut. Es wird Potential vernichtet wo es geht - das ist der Trend dieser Zeit. Einige wenige lenken alle - da brauchen wir doch nicht mehr Lenker, oder? Und Kugeln rollen eh besser. Im Artwork sehen wir einen lüstern grinsenden Kerl, der seinen Arm ganz tief in den Mund einer verzückt schauenden Dame mit Barbie-haften gelifteten Proportionen steckt. Hat was von "So, geliftet ist se schon, auf die Bühne kann se, nun noch die Stimme feintunen und fertig."

Mit Zwei von Millionen geht es weiter. Musikalisch klingelt bei mir gerade die Band The B-52s im Hinterkopf, aber das soll uns ja nicht stören. Dieser Song kommt schneller daher als sein Vorgänger. Die Musik wirkt treibender, der Gesang teilweise manisch.
Worum geht es hier? Das lyrische Ich betrachtet zwei Personen, eine männlich, eine weiblich und bedauert sie zutiefst. Der eine frisst brav alles, was man ihm vorsetzt, die andere scheint im Spiegel ihrer Jugend nachzuweinen. Irgendwie assoziiere ich damit irgendwelche B- oder C-Promis, die mal wer waren, aber nun so tun, als sein sie es immer noch. Keine Ahnung, vielleicht bin ich ja auch nur TV-geschädigt. Jedenfalls sind die beiden Zwei von Millionen - so wie wir alle. Ein Heer von Ärschen. Es scheint immer leichter zu sein, sein Ich zu verdrehen um vermeintlich wem zu gefallen. Die Botschaft? Lass Dir keinen Scheiß erzählen - erzähl ihn lieber selbst. Tja, da kann man nix zufügen. 3:30 Minuten später ist dieses unterhaltsam-wahnsinnige Stück dann auch vorbei. Das Artwork diesmal? Hmm...eine attraktive Frau von zwei Seiten. Man suche die eins und zwei auf ihren Brüsten und die Kehrseite ziert der Arsch. Hmm...so kann man es auch sehen. Oder hat der Künstler sich verlesen? "Zwei Melonen" statt "Zwei von Millionen"?

Mit Sprich mit Mir geht es weiter. Düster, fast James-Bond-like, geht es weiter. Auftakt zu einem Krimi? Nö...groovig ändert sich die Melodie wie ein Chamäleon und wieder merkt man hier die Tanzbarkeit des ganzen. Was das betrifft, da machen die vier eine tolle Arbeit. Gute-Laune-Musik ist das. Der Text? Uff...ich muss sagen, diese Band stellt mich bei diesem Review vor ein Rätsel nach dem anderen. Was könnte man hier hereininterpretieren? Da ich keine Gedanken lesen kann, versuche ich es mal so. Da ist jemand, der hat ne tolle Idee und Erfolg damit. Diese Idee will er aber für sich alleine - sein Bild soll keiner anfassen, denn sonst will jeder mal . und macht es nach. Sobald dies der Fall ist, wird das Bild zerstört. Somit versinkt diese Gestalt in Egoismus und Gleichgültigkeit. Worauf kann man das beziehen? Und Bilder fasst man ja auch nicht an, man betrachtet sie. Alles sehr kryptisch. Versucht euch mal selber daran was ihr dort seht. Das Artwork ziert ein Bild in Scherben - just wie besungen.

Lied 4 - Panther zieh nach Rio. Huch?! Seltsamer Titel. Und noch psychedelischerer Text. Surreal erwacht der Künstler und schreibt an jemand unbekanntem. Aber melodisch bietet der Song bislang das beste, was die Band bislang abgeliefert hat. Das Artwork zu diesem Song ist ebenfalls surreal bis chaotisch. Schädel, Augen, brennende Herzen und eine Postkarte mit Absender "Major Erd". Ich sehe da drin einfach einen Gruß der Band an die Fans und Hörer.

Mit Letzte Nacht haben wir nun Song fünf vor uns. Das Artwork ist schon mal nicht jugendfrei. Der Text übrigens auch nicht wirklich. Aber soll uns ja nicht stören. Es geht um...Masturbation?!? OK - warum auch nicht. Ist ja Sex mit nem Menschen, den man lieb hat. Was das ganze etwas seltsam erscheinen lässt ist nicht dass da jemand über jenes Thema singt, sondern eher der anderen Person was drüber erzählt, obwohl da wohl ne Art von zwischenmenschlicher Beziehung zwischen beiden ist.. Musikalisch ist der Song ebenfalls verrucht und weist hier und da auch Disharmonien auf, was das Gesamtwerk durchaus interessant erscheinen lässt. Das Tempo wechselt mehrfach und verleiht dem Song Komplexität.

Schauen wir uns mal den letzten Song an. Er heißt Was uns fehlt und bildet den musikalischen Ausklang der EP. Hier haben wir ein sehr gefühlvolles Lied vor uns, langsam und nachdenklich gepaart mit einem Hauch Romantik. Es geht um Beziehungen. Abends mit irgendwem ins Bett, morgens alleine aufwachen. Schaler Nachgeschmack. Klingt wie...eine Beziehung beenden, um sich dann förmlich durch die Weltgeschichte zu ficken, um zu finden, was man verloren hat, nur um nichts zu finden. Es ist schwer hier alles zu beschreiben - nur ein Tipp: macht mal das Licht aus und lasst den Song mal laufen und achtet auf den Text. Kopfkino pur. Definitiv mehr akustische Installation und künstlerisch versiert als Unterhaltungsmucke. Tja, ein sehr gelungener Abschluss.


Tracks:

  1. Kanten Schleifen [3:20]
  2. Zwei von Millionen [3:30]
  3. Sprich mit mir [3:13]
  4. Panther zieh nach Rio [3:27]
  5. Letzte Nacht [4:48]
  6. Was uns fehlt [6:39]

Gesamtspielzeit: 24:57


Line-Up:

  • Björn Eric Brodner (Vocals)
  • Pit Fischer (Gitarre)
  • Maik Schmolke (Bass, Backing Vocals)
  • Dennis Ricke (Drums, Backing Vocals)

Fazit:

So...das ist also das Debüt. Ich muss sagen, wenn das eine musikalische Visitenkarte sein soll, dann haben wir es hier mit einer Band zu tun, die Herr ihrer Instrumente ist und in der Lage ist, Lieder mit viel Tiefgang zu produzieren, die zu den verschiedensten Stimmungen passen. Sehr versiert in der deutschen Sprache, eloquent und mit einem tollen Verständnis für Metrik sind die Texte kleine Kunstwerke, die einladen zum drüber nachdenken und Interpretieren. Allerdings ist diese Band mitnichten etwas für Snobs und Kunstliebhaber mit dem Kaviarhäppchen in der einen und Champagner in der anderen Hand, sondern bestechen durch freche und vor allem: tanzbare musikalische Arrangements. Außerdem fand ich die Idee mit den 6 Artworks gut.
Nennen wir die Künstler an dieser Stelle ebenfalls beim Namen: Lars Aulerich, Jo-Pelle Küker-Bünermann, Jason Judas Salomon, Tanina Palazzolo, 28 sowie Moira Marcinkiewicz.

Wem würde ich das empfehlen? Nun, mal sehen. Der typische Metaller, sofern es den gibt, wird wahrscheinlich eher einen Bogen drum machen oder die CD nicht finden, weil sie nicht in seiner Abteilung rumstehen wird. Wer aber musikalisch aufgeschlossen ist und Gute-Laune-Musik haben möchte, ohne den Massenfraß aus dem Radio hören zu müssen, der ist hier gut beraten mit einer Band mit Charme und Niveau. Für eine EP haben die Jungs sich viel Mühe gegeben und was tolles produziert. Daher...

... gibt es auf jeden Fall 4,5 von 6 Pommesgabeln!